Weltnaturerbe
Grube Messel
Eine
Fibel des Lebens vor 49 Millionen Jahren
Von
Kurt Schlünkes
Als
erstes deutsches Naturdenkmal hat die UNESCO im Dezember 1995
die Fossilienlagerstätte Messel in die Liste des Welterbes
aufgenommen. Die Grube Messel dokumentiert die Entwicklungsgeschichte
der Erde vor 49 Millionen Jahren, als nach dem Aussterben
der Saurier explosionsartige Veränderungen die Tier- und Pflanzenwelt
bestimmten. Der Ölschiefer der Grube birgt Fossilien, die
die ganze Artenvielfalt der Lebewesen im Eozän umspannen,
in einer Qualität, wie sie bisher von keiner anderen Fundstelle
belegt ist.
Als
1875 auf der Suche nach Braunkohle die ersten beiden Grubenfelder
bei Messel erschlossen wurden, ahnte niemand, daß hier ein
weltweit einzigartiger Fossilienschatz verborgen lag. Eher
zufällig stieß man auf den ersten Fund, die Reste eines Krokodils.
Ausgrabungen während des Bergbaubetriebs der folgenden Jahre
- inzwischen war Messel durch eine Braunkohlen-Teer-Schwelerei,
eine Mineralöl- und Paraffinfabrik und den Erwerb weiterer
Grubenfelder zu einer Großindustrieanlage gewachsen - förderten
1911 den ersten spektakulären Fossilienfund zu Tage: das Urpferd.
Von
der Kohlegrube zum Naturdenkmal
Die
Entwicklungshöhe der Urpferde erlaubte es, Messel in das Zeitalter
des Eozän einzuordnen. Die Grube erhielt die Bedeutung eines
paläontologischen Denkmals. 1912 schlossen die Bergwerkseigentümer
und das Großherzogliche Landesmuseum in Darmstadt einen Vertrag
über die Bergung der Fossilien.
Für
systematische Ausgrabungen war die Zeit jedoch noch nicht
reif. Der hohe Wasseranteil des Ölschiefers bereitete Probleme
bei der Konservierung der Funde. Der freigelegte Ölschiefer
trocknete an der Luft aus und zerfiel in kleine Stücke. Hätte
man die Fossilien im Originalgestein belassen, hätte man sie
zerstört. Um sie zu erhalten, mußten die Gesteinsplatten mit
den eingelagerten Fossilien feucht und luftdicht verpackt
und kühl und dunkel gelagert werden. Erst die 1961 entwickelte
Transfermethode ermöglichte eine dauerhafte Konservierung.
Die empfindlichen Wirbeltierfossilien werden dabei auf eine
Unterlage aus Kunstharz übertragen, mit Nadeln, Schabern und
Feinsandstrahlgeräten vom Ölschiefer befreit und schließlich
mit Klarsichtlack gehärtet. Unter Anwendung der neuen Methode
führte das Hessische Landesmuseum Darmstadt 1966 erste planmäßige
Grabungen durch. 1971 wurden weitere Urpferdskelette, ein
Tapirskelett und das Skelett eines Ameisenbärs geborgen. Von
1975 bis 1989 untersuchten Wissenschaftler jährlich etwa 500
Kubikmeter Ölschiefer.
Messels
eozänes Seebecken - ein Tummelplatz der Urtiere
Die
Sedimente der Grube Messel - Sande, Kiese, Ölschiefer und
Braunkohle - sind fossile Ablagerungen eines zur Zeit des
Eozän ausgedehnten Gewässernetzes. Die Umgebung der Süßwasserseen
und Wasserläufe war einige hunderttausend Jahre Lebensraum
für eine artenreiche Tier- und Pflanzenwelt. Tierkadaver und
Pflanzenreste wurden durch Wind und Wasser in den See transportiert.
Der sauerstoffarme Schlick des Seebodens verhinderte deren
Zersetzung, bevor sie versteinerten. So blieben viele vollständige
Skelette von Wirbeltieren mit Weichteilkonturen und sogar
Mageninhalten erhalten.
Die
hohe Qualität der Fossilien ermöglicht ein präzises Bild von
Anatomie und Lebensweise der bislang 100 nachgewiesenen Wirbeltierarten,
darunter 40 Säugetiere. Sie erlaubt Aussagen über die Ausbreitung
und Wanderung der Lebewesen, über ihre Entwicklung und Anpassung
an spezielle Umweltbedingungen. So bezeugen die fossilen Schuppentiere
die explosionsartige Entwicklung während des Eozäns. Sie zeigen
sehr ursprüngliche Merkmale, gleichzeitig aber auch bemerkenswerte
Sonderanpassungen an eine hochspezialisierte Ernährungsweise,
das Fressen von Ameisen und Termiten. Rätsel gibt dagegen
ein Verwandter des Schuppentiers auf, das geologisch frühste
Fossil eines Ameisenbärs und das einzige außerhalb Südamerikas.
Wie kommt ein Ameisenbär nach Europa?
Auf
einen Lebensraum mit vielfältigen ökologischen Nischen weisen
die Fossilien von Fledermäusen hin. Mehrere hundert Funde
legen nahe, daß die hochspezialisierten Insektenjäger die
in Messel häufigsten Säugetiere waren. Der gute Erhaltungszustand
hat bei Fledermäusen sogar den Nachweis des fossilierten Sonarsystems
ermöglicht.
Paradebeispiele
der Evolutionstheorie
Auf den ersten Blick kann man in einem Urpferdchen von der
Größe eines Pekinesen bis Foxterriers kaum einen Verwandten
eines Pferdes erkennen. An den Vorderbeinen trugen sie vier,
an den Hinterbeinen je drei Hufe. Beine und Hals waren sehr
kurz, der Rücken stark gekrümmt. Seit 1911 wurden die Überreste
von mehr als siebzig Urpferden gefunden, darunter über 30
vollständige Skelette. Von den beiden überlieferten Arten
gibt es Fossilien von Fohlen und mehreren trächtigen Stuten.
Die Konservierungen zeichnen die Konturen des Körpers bis
in die Haarspitzen detailgenau nach, oft ist auch der Mageninhalt
erhalten. Eine derart umfassende Dokumentation der Urpferde,
die als das Paradebeispiel der Evolutionsgeschichte Grundlehrstoff
für den Biologieunterricht abgeben, ist auf der Welt einzigartig.
Von
Vögeln und Reptilien gibt es jeweils einige hundert Fragmente
und vollständige Skelette. Die bisherigen Fossilienfunde von
Vögeln versprechen völlig neue Erkenntnisse über die Zusammensetzung
der frühtertiären Vogelwelt mit einem überraschenden Artenreichtum.
Interessant ist auch, daß es bis auf den Fund eines flamingoartigen
Vogels am Messeler See wohl keine Wasservögel gab. Die Vielfalt
der Reptilien- und Amphibienfauna mit ihren Krokodilen, Schildkröten,
Eidechsen, Schlangen, Salamandern und Fröschen ermöglicht
Rückschlüsse auf Nahrungsketten und das ökologische System
des fossilierten Biotops. Wichtige Indikatoren zur Bestimmung
der Lebensbedingungen im ehemaligen Messelsee sind die Knochenfische.
Messel
ist auch eine der bedeutendsten Fundstellen fossiler Insekten.
Die aufregendsten Exemplare sind metallisch bunte Käfer oder
Riesenameisen. Die Ameisenköniginnen der größten Art erreichen
eine Flügelspannweite von bis zu 16 Zentimetern. Die Flora
von Messel gilt unter Paläobotanikern als eine der artenreichsten
des Alttertiärs. Die Pflanzenreste lassen Rückschlüsse auf
klimatische Verhältnisse und besondere Standortbedingungen
zu.
Mit
bislang rund 10.000 Funden ist Messel weltweit eine der ergiebigsten
Fossilienlagerstätten, eine wahre "Fundgrube". Ein Ende der
Neuentdeckungen ist nicht abzusehen.
Kontrollierter
Abbau des Ölschiefers
Seit
1989 gibt es ein neues Grabungskonzept. Der Abbau des Ölschiefers
soll auch bei wissenschaftlich-paläontologischen Grabungen
weitgehend beschränkt werden, um das Naturerbedenkmal möglichst
wenig zu beeinträchtigen. Die Koordination der Grabungen und
die Dokumentation der Forschungsergebnisse liegt bei der Senckenbergischen
Naturforschenden Gesellschaft. Die Grube Messel ist Eigentum
des Landes Hessen und fällt damit unter die Bestimmungen des
Hessischen Denkmalschutzgesetzes. Drei Museen der Region befassen
sich mit der Präsentation der Fossilien und deren Bedeutung
für die Naturgeschichte: das Hessisches Landesmuseum Darmstadt,
das Naturmuseum Senckenberg in Frankfurt am Main und das Fossilien-
und Heimatmuseum Messel.
Wieder
Wirbel um die Grube
Den
ersten Wirbel um Messel gab es Anfang der siebziger Jahre.
Da für seltene Funde hohe Preise zu erzielen waren, begann
damals ein Ansturm von Privatgräbern und Fossilienhändlern
auf die Grube. Auf Betreiben des Bergwerkseigentümers wurde
sie 1975 für die Öffentlichkeit gesperrt.
Eine
größere Bedrohung der Fossillagerstätte ging 1971 von der
Müll-Lawine unserer Konsumgesellschaft aus. Auf der Suche
nach einer Lösung des Problems keimte bei den hessischen Landesbehörden
die Idee, die Grube Messel mit Müll zu verfüllen. Die Deponie
scheiterte zunächst am öffentlichen Protest. 1981 kam dann
der Planfeststellungsbeschluß des Hessischen Oberbergamtes
für die zentrale Abfallbeseitigungsanlage "Grube Messel".
Die darauffolgenden juristischen und politischen Auseinandersetzungen
endeten damit, daß die Hessische Landesregierung 1990 die
dauerhafte Erhaltung der Grube als Denkmal und Forschungsstätte
beschloß und das Land 1994 die Aufnahme der Fossilienfundstätte
in die Welterbeliste der UNESCO beantragte. So betitelte denn
auch die Presse die Aufnahme der Grube Messel in die Welterbeliste
Ende 1995 mit der Schlagzeile "Vom Aschenputtel zur Königin"
(Gießener Anzeiger).
Obwohl
zum Welterbe gekrönt, gibt es schon "Wieder Wirbel um die
Grube Messel" (Mannheimer Morgen): Jetzt soll in unmittelbarer
Nachbarschaft eine Haldendeponie für Gewerbeabfälle, Bauschutt
und Schlacken aus dem Darmstädter Müllheizkraftwerk entstehen.
Über die Frage, ob ein 35 Meter hoher Müllberg ein Naturerbedenkmal
beeinträchtigen könnte, wird noch diskutiert.
|
veröffentlicht
1996 |
|
|
|
|