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Luthers Geist schwebt jetzt in Welterbestätten

Luthergedenkstätten in Eisleben und Wittenberg auf der UNESCO-Welterbeliste

Von Kurt Schlünkes

Die Lutherstätten in Eisleben und Wittenberg gehören zum Kulturerbe der Menschheit. So hat das UNESCO-Welterbekomitee im Dezember 1996 entschieden. Im Vergleich zu den sieben Weltwundern der Antike geben sich die kursächsischen Bauten äußerst bescheiden. Doch ihren Wert für die Welt bemisst die UNESCO nicht am architektonischen Glanz der Gebäude, sondern an ihrer Bedeutung als authentische Schauplätze der Reformationsgeschichte. Martin Luther ist in Eisleben geboren und gestorben. In Wittenberg hat er gelebt und gewirkt und mit ihm Philipp Melanchton. Ihr geistiges Erbe wird in den Gedenkstätten bewahrt. Und das hat allemal Weltbedeutung.

Die UNESCO sieht im Fall der Luthergedenkstätten von Eisleben und Wittenberg die beiden Kriterien (iv) und (vi) der Welterbekonvention erfüllt: "Das Objekt ist ein herausragendes Beispiel eines Typus von Gebäuden oder architektonischen Ensembles (...), der einen bedeutsamen Abschnitt in der menschlichen Geschichte darstellt." Und es "ist in unmittelbarer oder erkennbarer Weise mit Ereignissen, lebendigen Traditionen, mit Ideen oder mit Glaubensbekenntnissen, mit künstlerischen oder literarischen Werken von außergewöhnlicher universeller Bedeutung verknüpft." Zum "Objekt" der UNESCO-Welterbeliste gehören das Geburts- und das Sterbehaus Luthers in Eisleben sowie die Lutherhalle, das Melanchtonhaus, die Stadt- und die Schlosskirche in Wittenberg.

Geburtshaus und Sterbehaus in Eisleben

"Ich bin hie zu Eisleben geboren und getauft, wie wenn ich hier bleiben solt." Wo Luthers Lebenskreis begann, da schloss er auch. Am 10. November 1483 wurde Martin Luther geboren und am nächsten Tag in der Kirche St. Petri und Pauli auf den Namen des Tagesheiligen Martin von Tours getauft. Am 18. Februar 1546 starb er in seiner Vaterstadt im Alter von 62 Jahren. Das Geburts- und das Sterbehaus in Eisleben stehen für die Eckdaten von Luthers Leben.

Die beiden Häuser sind auch Denkmale bürgerlicher Lebensweise zur Zeit der Reformation und damit Zeugnisse für die soziale und geistige Basis der historischen Ereignisse. Dem Kupfer- und Silberbergbau verdankte Eisleben, dass der Vater Hans Luther mit seiner Frau Margaretha sich 1483 hier im Petriviertel niederließ, um eine neue Existenz zu gründen. Er mietete das Haus an der damaligen Langen Gasse. Eine kleine Kammer neben der Küche gilt der Überlieferung nach als Luthers Geburtszimmer. Im heutigen Luthermuseum ist noch etwas von der Atmosphäre des ausgehenden 15. Jahunderts zu verspüren. Die Ausstellung stellt Herkunft, Kindheit, Jugend und Klostereintritt des Reformators und die Lutherverehrung nach seinem Tod in den Vordergrund.

Die Verehrung Luthers setzte in Eisleben bald nach seinem Tod ein. Noch im 16. Jahrhundert wurde am Geburtshaus eine Holztafel mit einem ganzfigürigen Porträtgemälde Luthers angebracht. Im Chronicon Islebiense wird berichtet: Als 1601 ein Brand im Petriviertel wütete, rissen die Bürger die umliegenden Gebäude nieder, um das Geburtshaus zu erhalten. 90 Jahre später, beim Stadtbrand von 1689, verzehrten die Flammen Obergeschoss und Dachstuhl des Hauses. Das Erdgeschoss blieb erhalten und die Holztafel konnte gerettet werden. Das Bildnis trug fortan die Bezeichnung "Unverbrannter Luther".

Das Untergeschoss wurde zur Lutherschule umgestaltet. Seinen Vorstellungen von einer Reform des Schulwesens verpflichtet, wurden von nun an in der vermuteten Geburtsstube arme Kinder unentgeltlich unterrichtet. Das Obergeschoss beherbergte in dem sogenannten "Schönen Saal" bereits 1693 eine Gedenkstätte. Das Geburtshaus gilt als eines der ältesten Geschichtsmuseen im deutschsprachigen Raum.

Anders als das Geburtshaus wurde Luthers Sterbehaus nie zerstört. Bis heute ist die originale Raumaufteilung im Inneren erhalten. Die Ausstellung dokumentiert seinen letzten Aufenthalt in Eisleben, die letzten Lebensstunden und seinen Tod. Seine letzte Amtshandlung – noch drei Tage vor seinem Tod ordinierte er in der Andreaskirche zwei evangelische Prediger – ist auf einem Gemälde von 1569 festgehalten. Die abgebildeten Personen sind authentisch und alle mit Namen zu benennen.

Die Lutherhalle

Die Lutherhalle, ehemals Teil des "Schwarzen Klosters", das Kurfürst Friedrich III., genannt der Weise, 1503 den Augustiner-Eremiten stiftete, gilt als die Hüterin der direkten Luthertradition. Als Martin Luther nach seiner Priesterweihe in Erfurt 1508 nach Wittenberg kam, waren die Bauarbeiten des Klosters noch in vollem Gange. 1512 wurde er zum Subprior des Klosters ernannt. Sein Arbeitszimmer bezog er in einer Zelle des Konventhauses, einem turmartigen Anbau. Vielleicht war dies die wichtigste Forschungsstätte der Reformation. Nach seiner eigenen Aussage befreite sich Luther in dieser Zelle von seinen inneren Glaubenskämpfen. Sein "Turmerlebnis" hat er selbst beschrieben: "So tobte ich in meinem wilden und verwirrten Gewissen (...) Bis Gott sich erbarmte, und ich, der ich Tag und Nacht nachgedacht hatte, den Zusammenhang der Worte begriff, nämlich: Gerechtigkeit Gottes wird offenbart in dem, was geschrieben steht: der Gerechte wird aus Glauben leben. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen, durch die der Gerechte als durch ein Geschenk Gottes lebt, nämlich aus Glauben heraus. Und dass dies der Sinn sei: dass durch das Evangelium Gerechtigkeit Gottes offenbart werde". Dieses neu gewonnene Schriftverständnis war die Geburtsstunde der Reformation. Seiner "Thorbude" schrieb Luther später Denkmaleigenschaft zu: "Thorbude, mein armes Stublin...., daraus ich doch das bapsttumb gesturmet habe, propter quam causam dignum esset perpetua memoria" (weswegen es zu dauerndem Gedächtnis würdig sei). Spätere Generationen zogen aber die noch heute erhaltene Lutherstube als Gedächtnisstätte vor. Die "Thorbude" brach man im 18. Jahrhundert ab.

Die Lutherstube entstand, nachdem das Kloster 1524 aufgelöst wurde. Der Kurfürst überließ dem Reformator das Gebäude zu Wohn- und Arbeitszwecken. In den 30er Jahren ließ Luther es umbauen. Er lebte in dem Haus über 40 Jahre. Hier entstanden seine wichtigsten Werke, die 95 Thesen, seine Vorlesungen lectura in biblia, seine Schriften und Korrespondenzen und die Lutherbibel von 1534. In das Auditorium des Hauses strömten die Studenten zu den Vorlesungen Luthers und Melanchtons.

Von der Lutherstube sagte der Künstler Johann Gottfried Schadow 1825, sie sei ein heiliger Wallfahrtsort: "Es dürfte wohl so leicht kein Ort geeigneter sein, uns den Geist Luthers in seiner persönlichen Erscheinung (...) zu vergegenwärtigen." In diesem Raum spielte sich nicht nur das Familienleben ab, er war auch der Ort der "Tischgespräche". Schon im 16. Jahrhundert galt er als hochgeachtete Gedächtnisstätte und blieb von jeder Nutzung der Lutherhalle unberührt. Seit 1655 heißt der Raum "Museum Lutheri".

Trotz Ausbauten und Umbauten blieben die Wohnräume Luthers und der große Hörsaal unverändert. Die Einrichtungsstücke, die noch aus Luthers Besitz stammen könnten, vermitteln eine Ahnung vom Leben ihrer einstigen Bewohner. Jährlich durchstreifen zigtausende von Touristen die Sammlungen des Reformationsgeschichtlichen Museums Lutherhalle. Zum Bestand gehören 90 Prozent der Erstausgaben von Luthers Schriften, eine kostbare Sammlung von Bibeldrucken, evangelischen Gesangsbüchern, Gemälden und Autographen – päpstliche Urkunden, Ablassbriefe, Notenhandschriften – und viele andere Sachzeugen der Zeit.

Das Melanchtonhaus

Eine wissenschaftliche Fundgrube ist die Sammlung des Melanchtonhauses. 309 Bände gedruckter Dissertationen des 17. und 18. Jahrhunderts sind hier zu finden sowie wertvolle Originaldrucke von Schriften Melanchtons und Luthers. Zu den Raritäten gehört ein Skatblatt Wittenberger Studenten von 1551 (sächsisches Blatt), das wahrscheinlich älteste Skatblatt in Deutschland.

1518 kam der erst 21-jährige Gelehrte Philipp Melanchton nach Wittenberg und trat die Professur für griechische Sprache an der Artistenfakultät an. An der Leucora, an der noch keine feste Lehrtradition bestand, konnten Melanchton und Luther ihre neuen Gedanken entfalten. Sie verhalfen der Universität zu europäischer Geltung. Fast ein Jahrhundert lang wurden in Wittenberg die intellektuellen Eliten Nord- und Osteuropas ausgebildet.

Melanchton, der nach Luthers Tod die führende Position an der Leucora übernahm, erwarb sich große Verdienste bei der Befreiung des Bildungssystems aus dem mittelalterlichen Formalismus und bei der Durchsetzung humanistischer Reformen. Er konzipierte die Idee des humanistischen Gymnasiums. Das brachte ihm den Titel "Praeceptor Germaniae" (Lehrer Deutschlands) ein. Seine reformationsgeschichtlich bedeutendsten Werke sind die erste systematische Darstellung der reformatorischen Theologie "Loci communes rerum theologicarum seu hypotyposes theologicae" (1521) und vor allem die grundlegende Bekenntnisschrift der evangelischen Kirche, die "Confessio Augustana". Letztere verfasste er 1530, als er an Luthers Stelle am Reichstag in Augsburg teilnahm.

Mit dem Studierzimmer des Hauses, in dem Melanchton 24 Jahre lebte und in dem er am 19. April 1560 verstarb, bleibt eine wichtige Erinnerungsstätte der Reformation bewahrt. Obwohl das Haus seit Melanchtons Tod ständig als Wohnhaus genutzt wurde, ist es fast unverändert erhalten.

Die Stadtkirche

Zu einem Hauptschauplatz des Reformationsgeschehens sollte trotz einer Reihe anderer bedeutender Kirchenräume gerade die Wittenberger Stadtkirche werden. Hier hielt Luther seine ersten öffentlichen Predigten. Sie haben die Zuhörer wohl angesprochen, denn als das Predigtamt an der Stadtkirche 1514 frei wurde, erteilte der Rat der Stadt Luther den Auftrag. Über 30 Jahre hatte er das Predigtamt inne. Er unterwies also mehr als eine Generation Wittenberger Bürger von der Kanzel der Stadtkirche herab im Glauben. Anhand von überlieferten Augenzeugenberichten kann bis auf die Stunde genau nachgewiesen werden, wann Luther in dieser Kirche gepredigt hat, wo er stand und welche Themen er behandelte. Weit mehr als die Hälfte der über 2.000 erhaltenen Predigten hielt Luther in der Wittenberger Stadtkirche. Sie war aber auch ein Schauplatz der Radikalisierung der reformerischen Tendenzen. Als Luther sich wegen des über ihn verhängten Banns auf der Wartburg verbergen musste, übernahm der Theologieprofessor Andreas Bodenstein, genannt Karlstadt, die Predigtaufgabe an der Stadtkirche. Karlstadt wandte sich in seinen Predigten energisch gegen die Heiligenbilder und löste damit den Bildersturm vom 6. Februar 1522 aus. Die aufgebrachte Menge verwüstete die Stadtkirche und zerstörte einen Teil der Ausstattung.

Vom Wittenberger Rat und von Melanchton gerufen, verließ Luther die Wartburg, um die Ordnung in der Stadtkirche wiederherzustellen. Vom 9. März an, dem Sonntag Invokativ, hielt er in der Stadtkirche die berühmten Invokativpredigten. Es gelang ihm, die radikalisierte Bewegung in gemäßigte Bahnen zu lenken. Sein entschiedenes Eingreifen führte letztlich zur friedlichen Akzeptanz und zur Ausbreitung der Reformation. Die Praedikatur sah er dabei als sein höchstes Amt an: "Der größte Gottesdienst ist die Predigt." Von der Kanzel der Stadtkirche herab begann er geradezu einen Feldzug der religiösen Unterweisung.

Seit 1525 widmete er sich verstärkt der Erneuerung der Gottesdienstordnung. Die neuen Gottesdienstformen wurden wesentlich in der Stadtkirche entwickelt und eingeführt. Ende Oktober 1525 fand hier der erste vollständig in deutscher Sprache gehaltene Gottesdienst mit der von Luther eingerichteten Liturgie statt. 1526 erschien seine "Deutsche Messe" im Druck. Am 20. Oktober 1535 fand in der Stadtkirche auf kurfürstlichen Beschluss die erste Ordination evangelischer Geistlicher durch Luther statt.

Die Stadtkirche wurde nach Luthers Tod in ihrer Bausubstanz kaum verändert. Die Innenausstattung dagegen stammt nur zu einem geringeren Teil aus seinen Lebzeiten. Viele der mittelalterlichen Altäre und Andachtsbilder fielen dem Bildersturm zum Opfer. Teile der spätmittelalterlichen Kanzel, auf der Luther gepredigt hat, sind heute in der Ausstellung der Lutherhalle zu sehen.

Die Schlosskirche

Luther selbst äußerte sich einmal über die Schlosskirche, sie sei winklig und schlecht zum Predigen geeignet. In der Schlosskapelle, die auch als Aula der Universität diente, wurde er am 19. Oktober 1512 zum Doktor der Theologie promoviert. Fünf Jahre später wurde die Schlosskirche Schauplatz des Ereignisses, das als der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 in die Weltgeschichte einging. An jenem letzten Oktobertag schickte er einen Brief an den Magdeburger Erzbischof und an den Brandenburger Bischof ab, in dem er den unmäßigen, von wahrer Buße ablenkenden Ablasshandel des Dominikaners Johannes Tetzel scharf kritisierte. Dem Schreiben legte er die 95 Thesen bei. Luther wollte damit die Gelehrten seiner Zeit zu Disputationen über die Ablasslehre aufrufen, die an der Universität stattfinden sollten. Deshalb musste er in Wittenberg seine Thesen veröffentlichen, wozu zu seiner Zeit allgemein das Nordportal der Schloss- bzw. Universitätskirche diente.

1525 übernahm die Stadtkirche die zentrale kirchliche Stellung für Wittenberg. Die Schlosskirche fungierte von da an hauptsächlich als Universitätskirche und, wenn fürstlicher Besuch im Wittenberger Schloss zugegen war, als Hofkirche. Luther hatte für solche Anlässe einen Predigtauftrag. In den Rechnungsbüchern der kurfürstlichen Hofhaltung sind die genauen Daten, die Themen und die Zuhörer seiner Predigten verzeichnet. Durch die Gottesdienste vor hohem auswärtigen Besuch wurde die Lehre Luthers auch an europäische Fürstenhöfe getragen.

Ihre heutige Bedeutung verdankt die Schlosskirche vor allem den Begräbnisstätten der großen Reformatoren. Luther selbst und sein engster Mitstreiter Philipp Melanchton, aber auch sein Landesherr Kurfürst Friedrich der Weise und dessen Nachfolger Kurfürst Johann der Beständige wurden hier beigesetzt. Unter dem Aspekt ihres Memorialwertes als Begräbnisort der Reformatoren ist die gesamte weitere Geschichte der Schlosskirche, ihr Wiederaufbau und Umbau, zu sehen. Die Schlosskirche ist nicht nur ein Gedächtnisort der Reformation, sondern auch ein Zeuge der wilhelminischen Kirchenpolitik, die dieses Denkmal als Ort nationaler Geschichte beanspruchte.

Ein "Pantheon deutscher Geisteshelden"

Die alte Schlosskirche der Reformationszeit gibt es bis auf wenige Reste nicht mehr. Ließ Kurfürst Friedrich III. sie 1503 als spätgotische Saalkirche errichten, so erscheint sie heute in barockem Kleid.

1760, im Siebenjährigen Krieg, brannten Schloss und Schlosskirche aus, Gewölbe stürzten ein, und die wertvolle Innenausstattung wurde zerstört. Auch die Thesentür fiel den Flammen zum Opfer. Aus den Überresten der Kirche entwickelte der sächsische Architekt Christian Friedrich Exner ein barockes Gebäude, allerdings schlicht und schmucklos gestaltet. Am 6. August 1770 wurde die Schlosskirche "Gott allein zur Ehre" neu geweiht.

Die wiederhergestellte Kirche wurde im Freiheitskrieg erneut beschädigt. Während der Besetzung durch die Franzosen 1806 diente die Schlosskirche kurzzeitig als Magazin. 1813 folgte eine erneute Besetzung. Diesmal nutzten die napoleonischen Truppen die Kirche als Heumagazin und Mühle.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts rückte die Wittenberger Schlosskirche vor allem als Denkmal deutscher Nationalerinnerung in das öffentliche Blickfeld. Der neu entstehenden politischen Macht Preußens diente die Person des Reformators als Integrationsfigur des erheblich vergrößerten, multikonfessionellen Staatsgebildes. Karl Friedrich Schinkel schlug vor, die Kirche wieder in den Zustand zu versetzen, in der sie zu Luthers Zeiten war. Schinkels Umbaupläne scheiterten am konservativen Beharren der Wittenberger Geistlichkeit, die den schlichten Zustand von 1767 als der protestantischen Einfachheit angemessener hielten.

Erneute Umbaupläne im Auftrag König Friedrich Wilhelm IV. unterbreitete der preußische Konservator der Kunstdenkmale, Ferdinand von Quast, 1844. Er schlug einen Umbau der Schlosskirche in ihren ursprünglichen Zustand vor, wollte diesen jedoch um historisierende Ergänzungen bereichern. Wiederum wurden die Umbauvorschläge größtenteils abgelehnt. Von den Entwürfen von Quasts wurde das neue Thesenportal ausgeführt. Quast formulierte die Aufgabe so: Es gelte, ein "Ehrenmonument der Reformation" zu gestalten, "so dass deren innerster Kern, sowie die vornehmsten dabei mitwirkenden Personen (...) in edelster Darstellung uns vor Augen treten." Das Thesenportal verkörpert den Kern des Wiederherstellungsgedankens im wilhelminischen Preußen: Die beiden sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise und Johann der Beständige erscheinen als "streitbare Helden" über dem Portal. In Anlehnung an die mittelalterliche Tradition, Standbilder biblischer Gestalten und der Schutzheiligen am Portal anzuordnen, verkörpern sie die Schutzmächte der Reformation. Im Tympanongemälde versinnbildlichen Martin Luther und Philipp Melanchton, vor dem Gekreuzigten knieend, die reformatorische Lehre von der Gnade Gottes im Opfertod Christi. Die Türflügel mit dem Text der 95 Thesen stehen für die historische Tat Luthers. Die Inschrift des Architravs nennt König Friedrich Wilhelm IV. als den Initiator und Stifter des erneuerten Portals. An Luthers 375. Geburtstag wurde es eingeweiht.

Kronprinz Friedrich Wilhelm, der spätere Kaiser Friedrich III., bemühte sich seit 1880 persönlich um ein Erneuerungskonzept unter dem Leitgedanken: "Ich wünsche ein Pantheon deutscher Geisteshelden in Wittenberg zu stiften mit einem Hintergrunde, der, soweit es die Kunst vermag, jeden Besucher an jene große Zeit erinnern soll." Als Schirmherr und Förderer nahm Friedrich Wilhelm direkten Einfluss auf die Planungen. Der Ausbau der Kirche lag in den Händen des Architekten und Geheimen Ober-Baurates Friedrich Adler. Er wollte eine "Ruhmeshalle der Reformation" ausgestalten. Luthers 400. Geburtstag gab den konkreten Anstoß für den Beginn der Arbeiten. Neun Jahre später, am Reformationstag 1892 war die Einweihung.

Die Restaurierung der Wittenberger Schlosskirche ist ein Musterbeispiel für die Entwicklung der Denkmalpflege im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Der realisierte Bau entstand im Zusammenspiel verschiedener historischer, ästhetischer und auch politischer Absichten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich der Zustand der Schlosskirche kaum verändert.

Der "genius loci" der Wirkungsstätten Luthers und Melanchtons ist lebendig. Der Wert der Gedenkstätten als Erbe der Menscheit ergibt sich auch aus der weltweiten Verbreitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Nach der letztverfügbaren Statistik von 1982 bekannten sich fast 69 Millionen Menschen auf allen Kontinenten zur lutherischen Kirche.

veröffentlicht 1997
   
 
Der Artikel ist erschienen in:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission, Ausgabe I-II, 1997. S. 57-62.
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